Titelbild Interview 1

Heute stelle ich die Fragen. Meine Psychotherapeutin Dipl. Psych. Katja Hartwig und ihr Mann Dipl. Psych. Harald Hartwig (im Folgenden KH und HH) haben geantwortet. Dies ist der Auftakt unserer Interviewreihe #durchdenwinter.

Wie erleben Sie persönlich die Corona-Zeit?

KH: In vielerlei Hinsicht fühle ich mich derzeit ausgebremst und dadurch auch punktuell frustriert. Dinge, die als selbstverständlich galten, müssen überdacht und verändert werden. Diese Anpassungsleistungen kosten Energie und lösen zeitweise innere Unruhe aus. Andererseits erlebe ich diese Zeit aber auch als entschleunigend bzw. sogar erdend, da mehr Zeit für Familie und die liegengebliebenen Sachen bleibt.

 

Haben Sie neue Ansätze der Psychohygiene entdeckt? Erkenntnisse, die überrascht haben?

Zitat auf hellblauem Hintergrund „Durch die reduzierten Möglichkeiten eröffnen sich Zeitfenster, die für entschleunigende Aktivitäten genutzt werden können. Dadurch ist Impansion möglich. Das heißt: mehr Bezug auf sich selbst.“

HH: Durch die reduzierten Möglichkeiten (also kein Kino, Fitnessstudio, Restaurant) eröffnen sich Zeitfenster, die für entschleunigende Aktivitäten (z.B. Spaziergänge, Hobbies) genutzt werden können. Dadurch ist „Impansion“ (als Gegenteil von „Expansion“) möglich. Das heißt: mehr Bezug auf sich selbst, weniger Konsum, die Chance, „die Dinge wieder ranzuholen“ und dadurch wird wieder mehr Balance und Ausgeglichenheit möglich, anstatt „höher, schneller, weiter“.

 

Inwiefern sind durch die Pandemie Symptomatiken bei Ihren Patienten verändert? Gibt es dadurch auch Änderungen innerhalb der Therapieansätze?

KH: Bei den meisten Patienten war bisher eine Verschärfung ihrer Symptome zu beobachten. Einige entwickelten zu ihrer Grundproblematik leider sogar zusätzliche Störungsbilder. Ursächlich dafür ist bspw. die Einsamkeit, da ein gewisser gesellschaftlicher Stillstand eingetreten ist und soziale Kontakte kaum noch gelebt werden können. Gerade Menschen, die allein leben, trifft dieser Umstand sehr hart. Das sind vor allem viele junge Erwachsene, aber natürlich auch ältere Menschen, die ihren Partner oder ihre Partnerin bereits verloren haben.

Zitat auf hellblauem Hintergrund: „Ein weiterer wichtiger Aspekt sind sowohl Angst vor Corona selbst als auch Existenz- und Zukunftsängste, gepaart mit Wut und Verzweiflung.“

HH: Ein weiterer wichtiger Aspekt sind sowohl Angst vor Corona selbst als auch Existenz- und Zukunftsängste, gepaart mit Wut und Verzweiflung, die aktuell häufiger geschildert werden, aufgrund finanzieller Einbußen und beruflicher Ungewissheit. Patienten, die bereits vor Corona Symptome aufgrund familiärer Konflikte entwickelt haben, leiden durch die Einschränkungen auch sehr stark. Sowohl Kennenlernen und Verlieben als auch Trennen ist in Zeiten von Corona schwieriger geworden.

KH: In der Therapie gilt: „Störungen haben Vorrang!“, so dass die Therapieinhalte aktuell durchaus „coronalastiger“ sind.

 

Was wünschen Sie sich von der Politik in Bezug auf die Situation?

KH: Es gibt sicherlich viele gute kurzfristige Ansätze, aber langfristig gesehen fehlt aus meiner Sicht die Perspektive. Wichtig wäre in jedem Fall die Existenzsicherung aller stark betroffenen Branchen, wie Solo-Selbständige, Gastronomen und der Veranstaltungs- und Reisebranche.

HH: Wünschenswert wäre ein Stufenplan mit Markern im Sinne eines „Was passiert wann?“. Wenn beispielsweise ein bestimmter Wert deutschlandweit unterschritten wird, können wir Weihnachten zu den Großeltern fahren. Oder wenn die Neu-Infektionszahlen einen gewissen Wert übersteigen, dann erfolgen klar definierte Maßnahmen. Zurzeit passiert alles gefühlt „auf Zuruf“ – keiner weiß, was Mitte nächsten Monats gilt, daher ist keine Planungssicherheit möglich.

 

Welche Tipps haben Sie für Betroffene (und nicht Betroffene), um gut durch den Winter zu kommen?

Zitat auf einem himmelblauen Hintergrund „Das Selbstwirksamkeitserleben, etwas geschafft zu haben, wirkt sich positiv auf das Selbstwertgefühl aus.“

KH: In den Herbst- und Wintermonaten sollten ausgiebige Spaziergänge unternommen werden, möglichst am hellsten Zeitpunkt des Tages und diese am besten zusammen mit Freunden (natürlich unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln.) Es können klare Projekte angegangen werden, wie z.B. Ausmisten oder Sortieren, da das Selbstwirksamkeitserleben, etwas geschafft zu haben, sich positiv auf das Selbstwertgefühl auswirkt.

HH: Hobbies sollten reaktiviert werden (Eisenbahn aus dem Keller holen, Farben anmischen, basteln, …). Und nicht zuletzt wäre es wichtig, auch die digitalen Medien zu nutzen, um unsere bestehenden Kontakte am Leben halten zu können.

 

Vielen Dank für das Interview!

Das Leipziger Bündnis gegen Depression e.V. dankt …

… dem Verband der gesetzlichen Krankenkassen und dem Verband der Ersatzkassen im Freistaat Sachsen, sowie …